Wie Archivdaten neue Forschungen beflügeln

Wenige Monate nach ihre Veröffentlichung zeigt sich: Ein im Rahmen von NFDI4Biodiversity mobilisierter Datensatz mit über 5000 Tierbeobachtungen von 1845 stößt bei heutigen Forschenden auf großes Interesse – zum Beispiel als spannende Vergleichsgröße.
5000 Tierbeobachtungen – 180 Jahre alt und relevant wie nie
In feinsäuberlicher Handschrift vermerkten die Revierbeamten 1845, wo sie einen Luchs gesichtet hatten, wann sie einem Bären begegneten oder wie viele Fischotter sich in ihrem Forstbezirk tummelten. Der Auftrag kam von oben: Die bayerische Forstverwaltung wollte es ganz genau wissen – flächendeckend, über das ganze Königreich hinweg. Offiziell war das Interesse dabei wissenschaftlicher Natur: Die Erhebung sollte die geografische Verbreitung ausgewählter Tierarten dokumentieren. Doch vereinzelte Kommentare in den Akten lassen durchblicken, dass es bei einigen der Forstbeamten nicht weit her war mit der wissenschaftlichen Neutralität: So bemerkte einer der Forstbeamten in seinen Aufzeichnungen: „Die Wildkatze ist leider noch nicht gänzlich ausgerottet, und jedes Jahr liefert noch einige Exemplare." Was immer die Motive waren: Am Ende der weitreichenden Bestandsaufnahme standen mehr als 5000 kartierte Tierbeobachtungen – eine Datensammlung, die sich 180 Jahre später als spannende Vergleichsgröße herausstellt.
Denn die Daten lassen sich heute nicht nur lesen, sie lassen sich analysieren, visualisieren, vergleichen. Möglich wurde das durch ein Kooperationsprojekt unter dem Dach von NFDI4Biodiversity; beteiligt waren Mitarbeitende des Lehrstuhls für Computational Humanities der Universität Passau, des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) sowie der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, zu denen auch das Bayerische Hauptstaatsarchiv zählt, in dessen Beständen die Forstakten lagerten.
In einem mehrstufigen Verfahren wurden die handschriftlichen Aufzeichnungen transkribiert, georeferenziert, standardisiert und anschließend über Forschungsplattformen wie GBIF und Zenodo öffentlich bereitgestellt – wo sie jetzt von Forschenden weltweit genutzt werden können. [Genaueres zur Mobilisierung finden Sie in diesem früheren Artikel.]
Alte Daten, neue Fragen
Der Impact ließ nicht lange auf sich warten. Schon kurz nach der Veröffentlichung fand der Datensatz Eingang in eine erste peer-reviewte Publikation in Nature Scientific Data. Die Studie ordnet das historische Material wissenschaftlich ein und zeigt: Die Tierbeobachtungen von 1845 sind weit mehr als bloße Listen. Sie geben Aufschluss über damalige Bestände, Lebensräume und Verbreitungsgrenzen – und dokumentieren etwa, wo der Biber bereits verschwunden war, obwohl sein einstiger Lebensraum weiter existierte. Auch methodisch ist die Studie bemerkenswert: Sie zeigt, wie sich aus heterogenen, handschriftlichen Quellen ein strukturierter Datensatz entwickeln lässt, der heutigen Forschungsstandards genügt – anschlussfähig, offen und maschinenlesbar.
Inzwischen liegt eine zweite Studie vor. Unter dem Titel „From Historical Archives to Algorithms: The Mobilisation of 19th-Century Wildlife Observations for Biodiversity Research“ analysiert sie den gesamten Weg der Daten, von der Archivquelle bis zur offenen Infrastruktur. Die Publikation erschien im Mai 2025 im Open-Access-Journal Diversity und erläutert, welche Herausforderungen, aber auch welches Erkenntnispotenzial in der Digitalisierung historischer Beobachtungen liegt.
In der Nachwuchsforschung ist man ebenfalls auf die digitalisierten Daten aufmerksam geworden. Eine Masterstudentin der Universität Passau arbeitet derzeit daran, die Beobachtungen von 1845 mit aktuellen Verbreitungsdaten in Beziehung zu setzen. Welche Arten sind geblieben? Welche verschwunden? Und was lässt sich daraus ableiten? Ihre Arbeit zeigt: Historische Quellen können entscheidend dabei helfen, ökologische Veränderungen über Jahrzehnte hinweg sichtbar zu machen – vom allmählichen Rückzug einzelner Arten bis zur Verschiebung ganzer Lebensräume.
"Es ist großartig zu sehen, dass die im Projekt mobilisierten Daten aus unseren handschriftlichen Quellen nun aktiv in aktuelle Forschungsarbeiten einfließen."
Dr. Bernhard Grau, Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns
Auch die Zahlen sprechen für sich. Auf der Plattform GBIF wurde der Datensatz bereits über 2.000 Mal heruntergeladen – als standardisiertes Biodiversitätsdatenpaket, das sich direkt in wissenschaftliche Analysen einbinden lässt. Das zugehörige Repositorium auf Zenodo verzeichnet ähnlich viele Abrufe. In ihm finden sich zusätzliche Hintergrundinformationen, Quellenverweise und technische Dokumentationen.
Vom Fachjournal in die Tageszeitung
Auch jenseits der Forschung fanden die Daten Beachtung. NFDI4Biodiversity veröffentlichte einen Blogbeitrag zum Projektergebnis, die Staatlichen Archive Bayerns veröffentlichten eine offizielle Pressemitteilung und lud interessierte zu einem Vortrag zum Thema. Promopostkarten mit historischen Tierillustrationen und eine Social-Media-Kampagne flankierten die Kommunikation; selbst der Münchner Merkur berichtete.
Für Dr. Bernhard Grau, Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns, ist diese Breitenwirkung kein Nebeneffekt, sondern Ziel des Projekts: „Es ist großartig zu sehen, dass die im Projekt mobilisierten Daten aus unseren handschriftlichen Quellen nun aktiv in aktuelle Forschungsarbeiten einfließen. Genau das war unser Anliegen: den Wert archivischer Überlieferung und das Erkenntnispotenzial historischer, analoger Quellen für die Biodiversitätsforschung sichtbar zu machen.“
Mehr als ein Einzelfall
Biodiversitätsforschung ist auf langfristige, qualitativ hochwertige Daten angewiesen, nicht nur aus Labor und Feldstudien, sondern auch aus Archiven, Museen, historischen Karten oder Sammlungen. Erst sie ermöglichen Rückblicke über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg – und die braucht es, wenn Artenrückgänge verstanden, Verbreitungsverschiebungen analysiert oder Schutzmaßnahmen geplant werden wollen.
Noch sind viele dieser Daten allerdings schwer zu finden oder schlichtweg nicht ohne Weiteres zugänglich, zum Beispiel, weil sie nicht in digitalisierter Form vorliegen. Genau hier setzt die Mission von NFDI4Biodiversity an: Daten, die bislang nur analog, unstrukturiert oder in institutionellen Silos existierten, sollen gemeinschaftlich langfristig nutzbar gemacht werden – für Wissenschaft, Verwaltung und Gesellschaft.
Die Tierbeobachtungen von 1845 sind somit weit mehr als ein schöner Einzelfall. Sie sind ein Beispiel dafür, was möglich wird, wenn man historische Schätze hebt – und ein Ausblick auf das Potenzial, das in der systematischen Datenmobilisierung steckt.